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Was bedeutet systemrelevant – und wie honorieren wir das als Gesellschaft?

Veröffentlicht am 5. Mai 2020

Wer oder was systemrelevant ist, darüber sprechen wir seit Beginn der Corona-Krise. Dass dabei vor allem Frauen eine Rolle spielen, ist kein Geheimnis. Wir müssen Leistung endlich neu definieren, wenn wir wirklich an einem gesellschaftlichen Wandel interessiert sind.

Systemrelevant. Das ist das Wort der Stunde. Der Wochen. Wahrscheinlich sogar des Jahres. Wie auch nicht, schließlich wird gerade sehr deutlich, was die Fundamente unseres Alltags sind, wer diese stabil hält – und was mehr oder weniger als Bonus obendrauf kommt. Unsere Basis wird von Menschen im Gesundheitswesen, der Logistik, der Bildung, der Verkehrsinfrastruktur, im Einzelhandel und vielen mehr gebildet, die auch im Lockdown weiter ran müssen und gar verstärkt arbeiten, damit die anderen zuhause bleiben können, um sich nicht gegenseitig zu gefährden. Und auch wenn es so wichtig und richtig ist, dass wir diesen Menschen nun die Wertschätzung entgegenbringen, die sie natürlich schon immer verdienen, so hat das alles doch auch einen bitteren Beigeschmack.

Denn wir feiern sie zwar lautstark als Held*innen oder Engel und klatschten eine zeitlang abends begeistert auf den Balkonen – nur war diese Art der Wertschätzung schon immer ein gutes Instrument dafür, Anerkennung auf rein ideeller Ebene zu belassen. Ohne, dass ihnen zukommt, was sie wirklich verdienen: Finanziell und (arbeits-)strukturell. Leistung, die beklatscht, aber nicht entsprechend bezahlt und auch gesellschaftlich zu wenig gewürdigt wird, bleibt Leistung unter dem Radar.

Menschen, keine Held*innen

Zudem verdecken die warmen Worte, dass diese Menschen keine Held*innen mit Superkräften sind, sondern einfach Menschen, die ihre wichtige Arbeit machen, die Sicherheit brauchen, die Grenzen haben, die nichts Übermenschliches leisten können oder dazu irgendwie verpflichtet wären – schon gar nicht unter den Bedingungen, unter denen sie oft arbeiten müssen.

Wenn es den einen oder die andere im ersten Moment also vielleicht etwas deprimierte, dass der eigene Job nicht zu den Systemrelevanten zählte, sollte man sich wahrscheinlich freuen, statt in eine Sinnkrise zu geraten. Denn Systemrelevanz heißt derzeit meist erstmal: Unterbezahlung, geringe Personaldecke, großes Risiko, wenig gesellschaftliches Ansehen. Aber genau das ist das Problem, denn irgendwann will – zu Recht – niemand mehr diese wichtigen Jobs machen. Um das zu ändern, müssen wir den Wert von Leistung in verschiedenen Bereichen neu bewerten und uns dafür tatsächlich die große Frage stellen: Was für eine Gesellschaft wollen wir sein?

Wer arbeitet in den systemrelevanten Berufen?

Wer etwa bei der Aufzählung jener, die jetzt das System am Laufen halten, auch immer wieder vergessen wird, sind beispielsweise die Reinigungskräfte in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Auch sie sind einem hohen Risiko ausgesetzt, auch sie arbeiten sich rund, damit alles so gut wie möglich funktioniert. In den öffentlichen Lobreden tauchen sie trotzdem kaum auf.

Wer jetzt sichtbar wird und wer nicht – und warum wir erst jetzt so viel über diese Berufe reden, das ist ein Thema, mit dem sich wirklich jede*r mal auseinandersetzen sollte. Wir müssen uns also anschauen, wer die Menschen in den systemrelevanten Berufen sind, wenn wir ernsthaft an einem gesellschaftlichen Wandel interessiert sind. Und in der Mehrzahl sind das zunächst mal: Frauen. Denn sie sind zu etwa zwei Dritteln in ihnen vertreten. Sie arbeiten verstärkt in den sogenannten Frauenberufen, den so unterbezahlten wie wichtigen Jobs in der Pflege, der Erziehung, an der Kasse, der Reinigung.

Der „Krisenbeitrag“ von Frauen geht aber weit über die Erwerbsarbeit hinaus, denn noch immer übernehmen sie mehrheitlich die Fürsorge- und Haushaltsarbeit in den Familien. Sie machen einen Großteil der emotionalen Arbeit in Beziehungen. Und aktuell sind sie noch stärker für die Betreuung von Kindern durch ausfallende Kitas oder geschlossen Schulen zuständig. So haben laut einer Erhebung der Hans Böckler-Stiftung bereits jetzt 26 Prozent der Frauen ihre Arbeitszeit reduziert, aber nur 16 Prozent der Männer.

Die Systemfehler liegen auf dem Tisch

Denn einerseits gilt auch im Jahr 2020 meist noch die Haltung: Mama macht‘s schon – und andererseits ist ihr Arbeitsausfall in vielen Familien finanziell leichter verkraftbar, weil Mütter sehr viel häufiger als Väter in Teilzeit arbeiten. Die viele unbezahlte Arbeit, die sie täglich leisten, fällt bei diesen Rechnungen unter den Tisch. Und die Belastung durch die doppelte Arbeit verschärft sich nun umso mehr, da in dem fragilen System, mit dem wir einen Hauch von Vereinbarkeit von Familie und Beruf geschaffen haben, alle Hilfen wegfallen.

Hinzu kommt, dass nicht mitgedacht wurde, dass die Arbeitsausfälle, die durch die Schul- und Kitaschließungen zustandekommen, finanziell besser gepuffert werden müssen. Auch dafür, wie nun Alleinerziehende die Situation meistern sollen, die wiederum auch mehrheitlich Mütter sind, gibt es keinen echten Plan. Vielmehr noch, gibt es nun Berichte darüber, dass Alleinerziehende, die nun durch Corona ihren Job verlieren, noch nicht einmal Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, weil sie durch die fehlenden Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen.

Es sind Fehler im System, die sicherlich nicht mutwillig entstanden sind – und dennoch eben gemacht wurden. Sie zeigen jetzt in einer neuen Deutlichkeit, was schon lange grundlegend gesellschaftlich und wirtschaftlich schiefläuft. Für Familien – aber insbesondere auch für Frauen. Und das all kann dazu führen, dass die Hochrechnungen wahr werden, denen zu Folge für 75 Prozent der heute 35- bis 50-jährigen Frauen die gesetzliche Rente nur etwa 400 Euro betragen könnte.

Was sich jetzt ändern muss

Um das zu verhindern, lägen schon unterschiedliche Lösungen auf dem Tisch: Denn der Gender-Pay-Gap entsteht nicht nur durch ungleiche Bezahlung in vergleichbaren Positionen, sondern besonders durch die unterbezahlten „Frauenberufe“. Fürsorge-Arbeit für Kinder und ältere zu pflegende Personen könnten bezahlt und das Ehegattensplitting abgeschafft oder optional angelegt werden, so dass Paare individuell entscheiden können, welches Modell für sie das richtige ist. Zwei Drittel der Väter nehmen noch immer überhaupt keine Elternzeit, was zu einer längeren Unterbrechung für Frauen in ihrer Erwerbsbiographie führt – und zu einem erschwerten Einstieg hinterher. Hier wären Arbeitgeber*innen gefragt, sich zu überlegen: Was kann sich strukturell im Unternehmen ändern, dass es hier zu einer besseren Ausgeglichenheit kommt?

Wo man auch ansetzt: Es ist jetzt an der Zeit, die Gespräch über Systemrelevanz in Forderungen übersetzen. In Wertschätzung. In Strukturwandel. Ansonsten wird der Begriff ad absurdum geführt. Wenn wir jetzt also von einer Neugestaltung unserer Welt sprechen, von den Chancen, die sich ergeben, dann müssen wir über Geld reden. Und dabei einen Fokus auf Frauen legen – hierzulande, wie auch global. Denn die Situationen von Frauen hat sich überall auf der Welt durch Corona verschärft – die UN erwarten „langfristige Einkommensverluste” für Frauen und einen Einbruch der Frauenerwerbsquote weltweit. Das führt wiederum in einen erneuten Einbruch von Gleichberechtigung, die wir für gesunde Gesellschaften dringend brauchen.

Wir müssen über Geld sprechen

Um Veränderungen anzustoßen, müssen wir auch überprüfen, wie wir die Dinge framen, also in welchen Kontext sie gesetzt werden. Fürsorge-Arbeit ist beispielsweise kein Frauen-, sondern ein Wirtschaftsthema. Leistung zeigt sich nicht nur in Erwerbsarbeit oder einem hohen Profit. Berufe dürfen nicht schlechter bezahlt werden, nur weil ihnen eine Berufung inne liegt, sie also einen höheren ideellen als monetären Wert mit sich bringen. Und Sicherheit muss ganz entschieden auch im Sinne von finanzieller Absicherung und Bildungsmöglichkeiten gedacht werden. Wie wir über Themen sprechen, formt ganz entscheidend unsere Realität.

Es wäre doch genau jetzt, in der Zeit der großen Entscheidungen, ein Moment für gesellschaftliche Transformation. Und für die müssen wir auch die Fragen nach dem Geld stellen. Wer hat davon wie viel und warum? Was entlohnen oder besteuern wir wie und warum? Wer ist wirklich abgesichert in unserer Gesellschaft und wieso? Wen vergessen wir dabei immer wieder – und warum fällt uns das so verdammt leicht?

Es ist wichtig, bei der Verteilung und Wirkkraft von Geld ganz besonders genau hinzuschauen. Denn was wir da sehen, erzählt nicht nur darüber, was schiefläuft. Sondern auch darüber, was möglich wäre.

Quelle, Artikelbild: Statista/ Bundesagentur für Arbeit, Stand 2019.